Dienstag, 25. Oktober 2011

Und happy end für alle

Ich konnte mit vier schon lesen und in zehn weiteren jahren habe ich viel mehr zeit damit verbracht das leben von den anderen zu erleben als mein eigenes.
Eins von meinen lieblingsbücher war „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe. Ich besaß ein uraltes buch aus den 50-er mit altmodischer druckschrift und schönen bildern auf dem vergilbten papier: Robinson überlebt den schiffsbruch, Robinson und die ziegen, Robinson errichtet eine hütte aus den palmenblättern, Robinson und Freitag bauen ein boot. Und natürlich die rührende szene am ende des buches: Robinson kommt zurück und trifft seinen betagten vater, der seinen sohn nicht mehr unter lebenden zu treffen geglaubt hat.
Ich hab das buch ungefähr zehn mal gelesen und jedes mal tat mir der arme unfreiwillige surviver leid: Er wartete fast sein leben lang darauf, dass ein schiff vorbeikommt und ihn rettet, ihn in seine heimat zurück bringt. Und am ende entpuppte sich sein traum als eine illusion, denn er fand nach der rückkehr das zuhause, nach dem er sich so gesehnt hat, nicht vor. Alles war anders und alle waren anders. Der Robinson war enttäuscht und ich auch. Ich habe ihm so sehr das glück nach so vielen strapazen und entbehrungen gewünscht.
Der vorbesitzer des buches war anscheinend nicht so von der geschichte angetan wie ich, und hat, wahrscheinlich aus langweile, all die schönen bilder mit bärten, säbeln, augenklappen und pistolen aber auch mit überdimensionalen geschlechtsorganen versehen, die auf das männliche geschlecht des besitzers sowie auf seine blühende pubertät in der schlimmsten phase hindeuteten. Auf die phase, wo die pickel ganz aktuell sind, der sex dafür ungefähr die gleiche erreichbarkeit hat, wie die anderen inseln für robinson: sichtbar, gerade zum greifen nah, aber dennoch unerreichbar.
Später habe ich andere literatur für mich entdeckt. Die bücher waren damals sehr begehrte und rare ware, denn im fernsehen lief nur scheisse und irgendwie musste man sich die zeit vertreiben. Die leute lasen viel. Meine eltern hatten mehrere buchschränke voll mit büchern. Manche waren schon zerschleddert und alt mit eselsohren und tintenflecken. Das waren wunderschöne bücher. Vorne stehen durften sie trotzdem nicht. Die offenen regale im wohnzimmer waren für die klassikserie reserviert, deren bücher alle gleich ausahen: schöne dicke cover mit goldgeprägten lettern und auf gutem weissen papier gedruckt. Ich habe mich lange an sie nicht getraut, denn irgendwie gehörten sie für mich eher zu den deko-gegenständen als zu den büchern. Viele davon waren pflichtlektüre in der schule und reizten mich deswegen auch wenig sie freiwillig anzufassen.
Ich weiß nicht mehr, wieso ich trotzdem so ein buch in die hand nahm. Es war Michail Bulgakov’s „Notizen eines jüngen arztes“ und es wurde eine lange romanze. Sowie man die fotos oder briefe von einem ehemaligen geliebten immer wieder heraus holt, von dem man sich zwar getrennt aber nie richtig losgekommen ist, so nahm ich regelmäßig, mindestens einmal im jahr, das buch aus dem regal und las die geschichten, die ich schon fast auswendig kannte immer wieder und wieder.
Es ging um einen angehenden arzt, der nach dem studium in die vorrevolutionäre russische pampa zur approbation geschickt wird. Es gibt nichts außer bauern und krankheiten und des gefühls, man würde alleine versuchen die ganze welt zu retten. Bulgakov war selber ein arzt, der sich trotzdem der literatur verschrieben hat und er wusste ganz genau, wie man die beiden seiten seiner seele zu einem leben verbinden kann. Wenn man das büch las, beneidete man den jungen mann um die schwierigen analphabetischen kranken und harten arbeitszeiten, um die schlechte wetterbedingungen draußen und seinen hoffnungslosen Don-Quichote-Krieg gegen die ignoranz, gleichgültigkeit und grausamkeit. Am ende des buches wusste man nicht so genau, was aus dem jungen helden geworden ist, aber die geschichte die direkt danach kam hieß „Morphium“. Sie gehörte nicht dazu, aber ich denke, dass der arzt im tödlich endenden drogenrausch der junge arzt gewesen war. Das leben ist manchmal härter als man denkt, die dunkelheit viel tiefer und die nacht scheint endlos zu sein.
Bei meiner oma gab es nicht so viele kindergerechte bücher. So kam es, dass ich zwischen neun und dreizehn den kompletten James Hadley Chase, die leicht pornographischen bücher über Angelique und den könig, sowie Vladimir Karatkevich, der zwar wunderschöne aber auch sehr schaudrige geschichten  von den rittern und rache und edelmut geschrieben hat, gelesen. Dazwischen geriet ein seltsames buch, an das ich mich noch heute sehr gut errinnern kann. Es hieß „Die abenteuer der kleinen erbse“. Die erbse wollte die große welt sehen und haute von zuhause ab. Unterwegs erlebte Sie viele spannende abenteuer mit anderen gemüsesorten. Das buch endete in der kulmination (ich glaube, die freche erbse steckte halstief in schwierigkeiten). Nicht weil es eine fortsetzung gab, sondern weil die hälfte des buches einfach fehlte. Ich habe nie herausgefunden, wie die geschichte endet. Die kleine erbse blieb irgendwo da draußen und ich blieb mit meinen fragen. Das damit verbundene traumatische erlebnis werde ich wohl nie ganz überwinden.
Ich denke manchmal an die kleine erbse.
Vielleicht treffe ich sie irgendwann in der großen welt.
Ich werde ihr helfen aus dem schlamassel und dann gibt es einen happy end.
Für sie und für mich, für uns beide. Und für alle anderen.

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